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Annja

Als Coiffeuse/Visagistin träumte ich davon, mich eines Tages selbständig zu machen. Vor fünf Jahren ging dieser lang ersehnte Wunsch in Erfüllung und ich wurde Inhaberin meines eigenen Coiffeur-Salons, dem «STYLING-ATELIER». Mein ehemaliger Chef wurde pensioniert, mein Vater wollte mich finanziell unterstützen, mein Traumlokal war ausgeschrieben und nun für mich erschwinglich, der richtige Zeitpunkt war also gekommen.

Gott hat so vieles in die richtigen Bahnen gelenkt und mir die nötigen Türen geöffnet. Dies ist für mich ein riesengrosses Geschenk. Das Ganze hatte aber eine Kehrseite. Das gemietete Lokal war kein Coiffeur-Salon und musste zuerst in einen solchen umgebaut werden. Für meinen Mann und mich startete ein intensives Jahr, in welchem wir jeden Abend sowie jeden freien Samstag alles, was wir konnten, selber umbauten. Dies bereitete uns Freude, raubte uns aber auch Energie und brachte uns an unsere Grenzen. Der Tag der offenen Tür war gekommen, und ich erinnere mich gut daran, wie sich bei mir Gefühle der Überlastung, der Überforderung und der Übermüdung breit machten. Auch Ängste kamen auf, dass ich es nicht schaffen würde. In diesem Moment wäre ich am liebsten wieder aus dem Ganzen ausgestiegen.

 

Ich erinnere mich gut daran, wie sich bei mir Gefühle der Überlastung, der Überforderung und der Übermüdung breit machten.

 

Trotzdem startete ich mit der Arbeit in meinem neuen Salon und stellte meinen ehemaligen Chef an, was einen Rollentausch mit sich brachte, welcher nicht nur einfach war. Auch meine ehemalige Arbeitskollegin wurde meine Angestellte. Ich hatte aber einen Lichtblick. Mein Mann und ich träumten schon länger von einer USA-Reise und setzten uns diese im Jahr nach dem Umbau, zu unserem 10-jährigen Hochzeitsjubiläum, zum Ziel. Nach dieser anstrengenden Zeit freuten wir uns sehr darauf und empfanden eine Auszeit für uns als wichtig. Ein paar Monate später stellte sich aber heraus, dass meine ehemalige Arbeitskollegin und unterdessen Angestellte ebenfalls eine Auszeit nötig hatte. Sie dachte an einen unbezahlten Urlaub für einen Sprachaufenthalt in Amerika, und zwar genau in dem Zeitraum, in welchem mein Mann und ich uns unsere Reise vorgestellt hatten. Ich wollte ihr dies ermöglichen und traf mit ihr die Abmachung, dass sie nach der Reise ein Jahr lang bei mir weiterarbeiten würde, damit mein Mann und ich unserer Reise ein Jahr später umsetzen konnten. Sechs Wochen nach ihrer Abreise rief sie aus Amerika an und stellte mich vor die Tatsache, dass sie künden werde. Dies löste in meinem Mann und mir eine riesige Enttäuschung aus und wir realisierten, dass wir unsere Reise wieder verschieben mussten, und zwar auf unbestimmte Zeit.

 

Leere, Traurigkeit und Lustlosigkeit

In mir brach alles zusammen. Die ganze Überlastung der letzten Zeit und die Enttäuschung über den geplatzten Traum waren zu viel für mich. Ich war am Ende meiner Kräfte und fühlte mich nur noch leer, traurig und lustlos. Ich war enttäuscht von meinen Mitmenschen und auch von mir selber. Auch im Geschäft lief Einiges nicht gut, was mir den Rest gab.

 

Ich hätte am liebsten aufgegeben.

 

Ich hatte Angst, alles nicht mehr zu schaffen. Ich hätte am liebsten aufgegeben. Aber da war noch mein Vater, der so viel Geld und Glaube in mich investiert hatte. Diese Situation überforderte mich so sehr, dass ich am liebsten nicht mehr weitergelebt hätte. Ich war unzufrieden, jammerte und schimpfte zu Hause nur noch herum. Und manchmal liefen mir die Tränen hinunter, während ich meinen Kunden die Haare wusch.

 

Die Wende

Irgendwann war ich mal mit einer Freundin unterwegs. Sie bemerkte, dass es mir nicht gut ging. Also erzählte ich ihr alles und auch, dass ich am liebsten gar nicht mehr leben würde. Dies erschreckte sie zutiefst. Sie wollte mich nicht mehr gehen lassen, bevor ich nicht meinen Hausarzt angerufen hatte.

 

Ich lernte, meine Gefühle einzuordnen und Strategien im Umgang mit ihnen zu finden.

 

Meine Bedenken und die Angst davor, medikamentös behandelt zu werden, waren jedoch gross. Ich wollte nicht in eine Abhängigkeit geraten und auch nicht unter Nebenwirkungen solcher Medikamente leiden. Schlussendlich rief ich aber meinen Hausarzt an, erhielt einen Termin und wie befürchtet ein Antidepressivum verschrieben. Tatsächlich half mir dieses Medikament aber sehr. Ich konnte innerlich herunterfahren und dies tat mir gut. Dadurch konnte ich wieder klarer denken und meine Situation analysieren. Ich lernte, meine Gefühle einzuordnen und Strategien im Umgang mit ihnen zu finden.

 

Gott zeigte mir den nächsten Schritt

Nach eineinhalb Jahren, und zu diesem Zeitpunkt wieder stabil, hatte ich an einem Abend das Gefühl, dass Gott zu mir sagte, dass nun die Zeit gekommen sei und ich es wieder schaffen würde, ohne das Medikament auszukommen. Zusammen mit meinem Hausarzt schlich ich dieses daraufhin über drei Monate hinweg aus. Eine Woche, nachdem ich die letzte Tablette eingenommen hatte, im März 2020, startete der Lockdown in der Schweiz. Eigentlich hätte es mir deswegen schlecht gehen müssen, Ängste und Unsicherheit bezüglich meines Jobs wären verständlich gewesen. Aber wie durch ein Wunder blieben diese Gefühle aus. Ich spürte eine grosse Ruhe in mir und merkte, dass meine Wurzeln wieder stark waren, und dass es mir wieder gut ging.

 

Aber wie durch ein Wunder blieben diese Gefühle aus. Ich spürte eine grosse Ruhe in mir und merkte, dass meine Wurzeln wieder stark waren, und dass es mir wieder gut ging.

 

Hoffnung

Natürlich habe ich auch heute zwischendurch noch meine Tiefs. In solchen Momenten hilft es mir, meine Gefühle zuzulassen und zu ordnen, mir zuzugestehen, dass ich einen Schritt kürzertreten muss, und mir Momente der Ruhe zu gönnen. Ich möchte meinen Mitmenschen mit meinem Erlebten Hoffnung machen und sie ermutigen, sich Hilfe zu holen, wenn sie merken, dass sie etwas nicht mehr selber schaffen oder tragen können. Es muss ja auch nicht immer gleich in Form eines Medikaments sein. Auch eine Gesprächstherapie oder ein Mentoring kann hilfreich sein. Ich finde es unterdessen wichtig, dass man nicht das Gefühl hat, man müsse stark sein und alles selber schaffen, wie ich es lange geglaubt hatte. Jeder hat seine Grenzen, und das ist auch gut so.

 

Redaktorin: Tabea